Kriminologie der Postmoderne: Kriminalität als soziales Konstrukt


In der traditionellen Auffassung wurde Kriminalität als etwas Objektives verstanden – rechtlich fixiert und von staatlichen Institutionen bestimmt. Die postmoderne Kriminologie stellt diese Vorstellungen jedoch in Frage und behauptet, dass Kriminalität kein bloßer Fakt ist, sondern ein soziales Konstrukt, das durch kulturelle, politische und mediale Diskurse geformt wird. Das bedeutet, dass das Verständnis von Kriminalität nicht im luftleeren Raum existiert, sondern im Zusammenspiel von Gesellschaft, Macht und symbolischer Repräsentation entsteht.
Im Kontext der Postmoderne, die von Relativismus, Dekonstruktion der Wahrheit und der Vielfalt an Interpretationen geprägt ist, hört Kriminalität auf, eindeutig zu sein. Sie wird zu einem symbolischen Schlachtfeld, auf dem nicht nur über die Tat, sondern über ihre Bedeutung gestritten wird. Wer entscheidet, was als Verbrechen gilt, und aus welchem Grund? Warum werden bestimmte Handlungen als Bedrohung für die Gesellschaft wahrgenommen, während andere – trotz offensichtlicher Schäden – als normal gelten? Diese Fragen stehen im Zentrum der postmodernen Kriminologie.

Macht, Sprache und Kontrolle
Die postmoderne Kriminologie stützt sich auf die Ideen von Philosophen wie Michel Foucault und Jean Baudrillard und betont die Rolle von Macht und Diskurs bei der Konstruktion des Täterbildes. Foucault betrachtete Kriminalität als Ergebnis einer „Biomacht“ – eines Kontrollsystems, das nicht nur über Strafen wirkt, sondern auch über die Formierung von Subjektivität. Der Kriminelle ist in diesem Zusammenhang nicht nur ein Gesetzesbrecher, sondern ein Produkt bestimmter Praktiken der Überwachung, Diagnose und Identifikation.
In der heutigen Gesellschaft wird Kriminalität zunehmend zu einem medialen Phänomen. Die Massenmedien informieren nicht nur, sondern interpretieren Ereignisse, formen die öffentliche Wahrnehmung von Norm und Abweichung. Durch Wortwahl, Betonungen und visuelle Darstellungen schaffen die Medien einen symbolischen Raum, in dem der Täter je nach Narrativ als Held, Monster oder Opfer erscheinen kann. Kriminalität wird dadurch nicht nur abgebildet, sondern regelrecht erschaffen.
Eine besondere Rolle spielt dabei die Sprache des Rechts. Die juristische Definition von Verbrechen hängt stets vom kulturellen Kontext ab. Was in einem Land als kriminell gilt, kann in einem anderen als normal oder sogar tugendhaft angesehen werden. Beispielsweise werden der Konsum bestimmter Substanzen, sexuelle Praktiken oder politische Protestformen je nach herrschender Moral und Ideologie kriminalisiert oder entkriminalisiert.

Kriminalität und Identität
Die Postmoderne löst stabile Identitäten auf und bietet stattdessen flexible, fragmentierte Selbstbilder. In diesem Zusammenhang wird der Kriminelle nicht als Vertreter einer bestimmten sozialen Klasse oder ethnischen Gruppe betrachtet, sondern als Träger einer „abweichenden“ Identität, die in Opposition zur normativen Identität konstruiert wird. So entstehen soziale „Andere“ – marginalisierte Gruppen, auf die die Gesellschaft ihre Ängste und Spannungen projiziert.
Ein Beispiel dafür ist die Haltung gegenüber Migranten in den Ländern Mitteleuropas, einschließlich Ungarn. Im öffentlichen und politischen Diskurs wird der Migrant oft als potenzieller Straftäter dargestellt – nicht auf Basis statistischer Daten, sondern durch eine symbolische Politik der Angst. Eine solche Konstruktion legitimiert bestimmte Kontrollmaßnahmen, erweitert die Machtbefugnisse des Staates und schränkt Grundrechte ein.
Kriminalität fungiert somit als Spiegel, in dem die Gesellschaft ihre eigenen Ängste, Widersprüche und ideologischen Konflikte erkennt. Dieser Spiegel reflektiert die Realität nicht direkt, sondern verzerrt sie, indem er bestimmte Aspekte überbetont und andere verschweigt. Die postmoderne Kriminologie versucht, diese Mechanismen aufzudecken und eine kritischere Sichtweise auf das Konzept der Abweichung zu ermöglichen.

Kritik und Herausforderungen
Natürlich ist der postmoderne Ansatz nicht frei von Kritik. Ihm wird vorgeworfen, zu relativistisch zu sein, objektive Bewertungsmaßstäbe abzulehnen und keine konkreten Lösungen für praktische Probleme der Kriminalität anzubieten. Doch sein größter Wert liegt nicht in Rezepten, sondern in den Fragen, die er aufwirft. Dieser Ansatz zwingt dazu, gewohnte Sichtweisen zu überdenken, unbequeme Fragen zu stellen und neue Möglichkeiten des Verständnisses sozialer Gerechtigkeit zu eröffnen.
Im ungarischen Kontext, in dem der politische Diskurs häufig auf das Bild des inneren oder äußeren Feindes zurückgreift, können die Ideen der postmodernen Kriminologie als Instrument kritischer Analyse dienen. Warum werden bestimmte Proteste als Bedrohung der nationalen Sicherheit dargestellt, während andere als Ausdruck des Patriotismus gelten? Warum lösen einige Arten von Wirtschaftskriminalität öffentlichen Aufschrei aus, während andere ignoriert werden? Die Antworten auf diese Fragen erfordern nicht nur juristische, sondern auch kulturelle Analysen.

Die Zukunft der Kriminologie: zwischen Wissenschaft und Interpretation
Die Kriminologie der Postmoderne leugnet nicht die Existenz von Kriminalität, sondern versucht zu verstehen, wie Bedeutungen entstehen, die bestimmten Formen von Abweichung zugeschrieben werden. Sie sieht in der Straftat nicht nur den Gesetzesbruch, sondern ein Symptom kulturellen Wandels, von Machtungleichgewichten und Identitätskrisen.
In einer Zeit zunehmender Digitalisierung, globaler Migration und politischer Polarisierung erscheint Kriminalität immer weniger als ein fest umrissener Tatbestand und immer mehr als ein System von Interpretationen. In dieser Welt voller Simulakren und multipler Wahrheiten wird die Kriminologie nicht nur zur Wissenschaft, sondern zur Philosophie – zur Suche nach Sinn im Symbolchaos, zum Versuch, die Mechanismen hinter dem Offensichtlichen zu entlarven.
Für die ungarische Gesellschaft – wie für jede andere – ist es wichtig, nicht nur gegen Kriminalität zu kämpfen, sondern auch zu verstehen, wie und warum bestimmte Handlungen als kriminell bezeichnet werden. In diesem Prozess kann das kritische Denken der postmodernen Kriminologie ein entscheidendes Werkzeug für sozialen Fortschritt sein.